Interview mit der Furche und dem Kooperationspartner KFJ, aufgenommen anlässlich der Denkwerkstatt St. Lambrecht. Die Generation 50plus und ihre Stellung in der Arbeitswelt – Arbeitsmediziner Rudolf Karazman ist der Experte, wenn es um diese Thematik geht. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeut (Existenzanalyse), Unternehmensberater und Gründer der IBG Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement GmbH. Im Interview im Rahmen der Denkwerkstatt St. Lambrecht nimmt er zu diesem umfangreichen und kontroversiellen Thema Stellung.
Die Furche: Was verstehen Sie unter Älterwerden als Wachstumsprozess? Inwiefern ist Älterwerden ein strategisches Potential?
Rudi Karazman: Wir haben Unternehmen wie die Erste Bank dabei begleitet, wie Produktivität und Erfahrung zusammenhängen und es hat sich gezeigt, dass die Deckungsbeiträge, die Gewinnmöglichkeiten und auch die Erträge mit dem Alter der Belegschaft wachsen. Bei der Analyse der Deckungsbeiträge nach Altersgruppen, die bis dato in dieser Form nicht durchgeführt wurde, stellten wir fest, dass der größte Erfolg bei der Altersgruppe 50plus lag. Sie erwirtschaftete durch die größere Anzahl und die tieferen Kundenbeziehungen die besten Ergebnisse. Bei der Voestalpine gibt es ein ähnliches Beispiel: Die Strategie war nicht mehr Stahl, sondern mehr aus Stahl und hier hat sich gezeigt, dass ältere und erfahrene Mitarbeiter in Wirklichkeit unersetzlich waren, weil sie das Wissen und die Erfahrung um das Stahlhandwerk am besten beherrschten. Älterwerden heißt auch klüger werden, mehr wissen, in einem größeren Horizont denken, weniger Fehler machen und Beziehungen tiefer pflegen können. Ältere Menschen bringen die qualitative Kompetenz mit, während Jüngere eher quantitativ orientiert sind. Daher sind die älteren Mitarbeiter die Stars. Sie sollten gut gehegt und gepflegt werden. Sie brauchen eine tolle Bühne und auch anspruchsvollere Aufgaben, die sie herausfordern.
Welche Arbeitsbedingungen finden Ältere in der gegenwärtigen Arbeitswelt vor? Gibt es für sie eine soziokulturelle Exklusionstendenz?
Karazman: Arbeit ist die Grundlage für menschliche Entwicklung. Menschengerechte Arbeit fördert nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch unsere Fähigkeiten und unsere Persönlichkeit. Drei Qualitäten sind hier wichtig: Hohe Sinnfindung, gute Zusammenarbeit und optimale Beanspruchung. Sinnfindung und Zusammenarbeit sollten maximal entwickelt sein, die psychobiologische Beanspruchung aber optimal. Die meisten Unternehmenswelten sind aber Prime Age Companies, das bedeutet, sie orientieren sich an den Mehrheitsbelegschaften der 50er und 60er Jahre und das waren jungen, inländische Männer. Zielvereinbarungsgespräche, Strukturen und Arbeitsbedingungen – wie Tempo, Takt, Höhe, Gewicht, Geschwindigkeit und Arbeitszeit – sind damals wie heute an die Bedürfnisse und Gegebenheiten von jungen Männern im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren gekoppelt. In erster Linie quantitativ ausgerichtet, nicht qualitativ. Dies führt implizit zur Verdrängung oder Exklusion älterer Mitarbeiter.
Was sind die Ursachen warum viele 50plus Menschen frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden oder ausgeschieden werden, obwohl sie sich noch „jung und fit“ fühlen?
Karazman: Aus betriebswirtschaftlicher Sicht spielt der Headcount und das Senioritätsprinzip eine große Rolle, wonach ältere Erwerbstätige frühzeitig in die Pension geschickt werden – leider aus Kosten.
Eine weitere Ursache hat damit zu tun, dass ältere Menschen tendenziell quantitative und nicht qualitative oder komplexe Aufgaben erledigen müssen. Dies führt häufig zur körperlichen Überforderung bedingt durch Druck und längere Arbeitszeiten und auf der anderen Seite zur geistigen Unterforderung. Dazu kommen noch die äußeren historischen und inneren Defizit- und Altersbilder, die die Sicht auf ältere Menschen verfälschen. Die Konsequenzen sind oft eine innerliche Pensionierung als Folge der äußeren Pensionierung. Wir schreiben ältere Mitarbeiter ab, damit beginnen sie, zu stagnieren und dies ist die Grundlage für Krankheit, Widerwillen, Konflikte oder Kündigungen. Einen positiven Beitrag zu dieser Dynamik leistet auch die nach wie vor vorhandene Pensionsvorstellung der 70er Jahre: Wenn die Arbeit langweilig wird oder einem überfordert, entsteht die Phantasie und Sehnsucht nach Frühpension. Der optimale Lösungsweg wäre hier eine Flexibilisierung aller Prozesse und Instrumente zugunsten der Mitarbeiter. Wir nennen das dann Drei Generationen Unternehmen – mit Synergien zwischen den einzelnen Generationen, die es aktiv zu nutzen gilt.
Stichwort Burnout: Ist das eine Modekrankheit, eine Zeitgeist-Erscheinung, ein anderes Wort für Depression oder tatsächlich Folge der Erfolgsgesellschaft?
Karazman: Wichtig ist hier, den Begriff Burnout wissenschaftlich zu definieren. Burnout ist ein berufsbedingtes Erschöpfungssyndrom bei Mensch-zu Mensch-Berufen, wenn es zu einem Contact-Overload (=“Kontakt-Überlastung“) kommt. Das Problem tritt auf bei zu viel Mensch-Kontakt im Beruf verbunden mit wenig oder kaum Weiterentwicklung und körperlicher Überforderung. Beispiele für Risiko-Burnout-Berufsgruppen sind Psychotherapeuten, Geriatrie-Beschäftigte, Pädagogen, Bewährungshelfer und Führungskräfte. Sie alle müssen viel Empathie für das Gegenüber – ihre Kunden oder Patienten – aufbringen und dies strengt sehr an. Wenn dann noch eine autoritäre oder laissez-faire Unternehmenskultur dazukommt, erhöht sich das Burnout-Risiko. Aber nicht jeder, der erschöpft oder müde ist, hat Burnout. Meistens handelt es sich um eine chronische Müdigkeit oder Stress, die zur Depression führen kann.
Was verstehen Sie unter humanökologischer und menschengerechter Unternehmensführung? Was muss diese erfüllen, damit Menschen produktiv und gesund bis zum Pensionsantritt arbeiten können und auch möchten?
Karazman: Eine menschlich nachhaltige Arbeitsdynamik fördert Menschen gesundheitlich wie persönlich. Dabei steht die einzigartige Verwirklichung des Menschen in Beziehung zu anderen im Vordergrund. Wir sind Gemeinschaftswesen und in dem Maße, wie wir eingehängt sind in Beziehung zu anderen, können wir uns auch optimal entfalten. „Love und Work“, meinte schon Sigmund Freud, sind die beiden Bestandteile und Grundvoraussetzungen eines balancierten Daseins. Die Gesundheit und die Ressourcen, die wir dazu benötigen, kommen von außen in den Körper. Das ist der humanökologische Ansatz. Daraus ergeben sich drei Behandlungsebenen, die in der Arbeitswelt zu berücksichtigen sind: die Schwere der Arbeit muss mit dem Alter zurückgehen – beispielsweise durch weniger Druck, Stress und Arbeitszeitverkürzung. Im gleichen Maße sollten die Arbeitsinhalte für Ältere interessanter und die Arbeitsschwierigkeit erhöht werden. Die dritte Ebene ist die soziale Ebene, die bei älteren Mitarbeitern stärker ausgeprägt ist und sich daher gut für die Gestaltung oder Übernahme von Rationalisierungs- oder Umstrukturierungsprozessen, schwierigen Projekten oder Kunden eignet. Darüber hinaus wäre es wichtig, Fortbildungen und Ausbildungen für die Altersgruppe 50plus anzubieten. Dies kommt einem Anerkennen der Potentialität gleich und ist eine Form der Wertschätzung diesen Menschen gegenüber. Meistens wird in Menschen ab 40plus nicht mehr investiert. Dies ist jedoch kontraproduktiv.
Welche Faktoren beeinflussen den langen und gesunden Verbleib im Arbeitsleben?
Karazman: Aus einer umfangreichen Studie des Finnish Institute of Health weiß man mittlerweile, dass der stärkste Faktor für den gesunden und langen Verbleib im Arbeitsleben das Wissen der Führungskräfte über das Älterwerden der Mitarbeiter ist. Als mächtigster Faktor für ein langes und gesundes Erwerbsleben gelten die sozialen Kontakte und Beziehungen. An zweiter Stelle kommt die Monotonie der Arbeit, an dritter Stelle körperliche Faktoren. Der größte Vertreibungsgrund ist mangelnde Anerkennung und Abwertung der Mitarbeiter.
Im Herbst letzten Jahres wurde der umstrittene 12-Stunden-Tag eingeführt: Wie stehen Sie dazu als Arbeitsmediziner und Psychotherapeut? Was sind die gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahme?
Karazman: Dieser Schritt war denkbar schlecht, da 75% der Bevölkerung bereits an jetzt an hohem oder sehr hohem Stress leidet und ab der 8.ten Arbeitsstunde das Unfallrisiko massiv ansteigt. Gleichzeitig sinkt die Produktivität, je länger die Arbeitszeit ist. Wenn man beispielsweise 12 Stunden arbeitet, beginnt man intuitiv ab den ersten Arbeitsstunden zu haushalten, um den Arbeitstag gut zu bewältigen. Diese Maßnahme wird daher die Frühpension und die Krankenstände fördern. Wir haben tendenziell eine ältere Belegschaft und ein Kippen der Alterspyramide. Eigentlich wäre in dieser Konstellation eine Verkürzung der Arbeitszeit angebracht. In jedem Fall ist eine Wahlmöglichkeit der Arbeitszeit zu präferieren. Wir sind verschieden und befinden uns in verschiedenen Lebensphasen. Daher sollten Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten auch flexibel wählen können. Dies bringt insgesamt viel mehr.