Kategorie: Arbeitszeiten

Arbeitszeiten

Menschen sind keine Maschinen

Österreich

»12-Stunden-Tag: Mediziner warnen vor Gesundheitsfolgen«

Experte: Rudolf Karazman

Nach seinen Erkenntnissen sehen sich die meisten Arbeitnehmer durch starken oder sogar sehr starken Stress belastet. Die Ursachen dafür lägen in hoher Arbeitsintensität bedingt durch Beschleunigung, Technologie und Deregulierung. „Eine Entgrenzung der Arbeitszeit ist kontraproduktiv“, sagte Karazman.

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burnout

Die vorgeschlagene Flexibilisierung der Arbeitszeit wirkt wie die Freigabe Alkoholgrenze im Straßenverkehr

Wien (OTS) – Auf die vorgeschlagene Novelle des Arbeitszeitgesetzes reagieren ArbeitszeitforscherInnen kritisch. „Der aktuelle Forschungsstand der Arbeitszeitforschung spricht eine klare Sprache gegen die vorgeschlagene Novelle“, so der Obmann der deutschsprachigen Arbeitszeitgesellschaft (D,A,CH) – Univ. Doz. Dr. Johannes Gärtner von der TU-Wien und der XIMES GmbH.

Zum Hintergrund

Die vorgeschlagene Novelle des Arbeitszeitgesetzes und Arbeitsruhegesetz beinhaltet eine Reihe von Änderungen. Im Wesentlichen sind diese

  • Erleichterungen bei der Anhebung der Höchstgrenzen der Arbeitszeiten (auf 12h tägliche und 60h wöchentliche Arbeitszeiten)
  • Erweiterungen von Ausnahmekatalogen z.B. im Hinblick auf Wochenend- und Feiertagsruhe und Verkürzung der Ruhezeiten

Aktuelle Forschung zur Arbeitszeit

Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Arbeitszeitforschung machen deutlich, dass die im Arbeitsschutz verankerten Regeln einen hohen Wert haben.

  • Der wissenschaftlich sehr gut abgesicherte Forschungsstand lässt erhöhte Unfall- und Fehlerquoten erwarten. So steigt die Unfallwahrscheinlichkeit erheblich (in extremen aber zulässigen Formen auf das 3-5-fachen des Normalwertes (z.B. bei mehreren Nachtschichten mit 12. Stunden bei der Heimfahrt). Derartige Erhöhungen des Risikos entspricht derer einer starken Alkoholisierung!
  • Ähnlich sind die Ergebnisse für verkürzte Ruhezeiten. Bei der Erleichterung von verkürzten Ruhezeiten wie z.B. im Bereich der Gastronomie ist mit höheren Unfallwahrscheinlichkeiten zu rechnen.
  • Studien zur Gastronomie in Deutschland zeigen, dass die hohen Arbeitszeiten bereits jüngere Beschäftigte schädigen. Für die Kombination langer Arbeitszeit mit mittleren bis belastenden Arbeitsbedingungen oder Lebensumständen sind schwere gesundheitliche und soziale Nachteile zu erwarten.
  • Arbeitszeiten – wie sie für günstige Umstände über kürzere Zeiträume vertretbar sind – in dieser Breite zu öffnen, schädigt.

Statt nach innovativen Wegen der Verbindung von Arbeit, Gesundheit und Sozialem zu suchen werden hier sehr viele wichtige Arbeitsschutzregeln wider besseren Wissens zerstört. Die ArbeitszeitforscherInnen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland sehen es als ihre Pflicht an, vor den möglichen Folgen zu warnen.

Univ. Doz. Dr. Johannes Gärtner
Für den Vorstand der Arbeitszeitgesellschaft & TU Wien

Rückfragen & Kontakt:

Univ. Doz. Dr. Johannes Gärtner
Arbeitszeitgesellschaft und TU Wien

Johannes.gaertner@tuwien.ac.at
0676 636 0746
www.arbeitszeitgesellschaft.at

Arbeitsmedizinische Konsequenzen einer Tagesarbeitszeit von 10 Stunden und mehr

Der Initiativantrag für den 12-Stunden-Arbeitstag liegt auf dem Tisch. IBG – mit 180 Mitarbeitern der größte heimische Beratungsdienstleister auf dem Gebiet des Betrieblichen Gesundheitsmanagements – hat die Gesetzesvorschläge auf ihre arbeitsmedizinischen Konsequenzen untersucht. Kein einziger der im Vorfeld gemachten Vorschläge der Arbeitsmedizin wurde in diesem Initiativantrag berücksichtigt. Die Regel bleibt unverändert: Mehr Arbeitsbelastung benötigt mehr Ruhezeiten.

Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht sind Ruhezeiten von 8 Stunden schon zu kurz. Dies führt im Normalfall bereits zu Schlafmangel – weil es ja auch – neben den Wegzeiten – Zeiten der Hygiene und des „Abschaltens“ braucht.  Die Belastungen steigen nach der achten Arbeitsstunde exponentiell: Das Unfallrisiko ist dann mit jenem Alkoholisierter zu vergleichen. Eine Heimfahrt nach der 12. Stunde bringt das rund 2,7-fache Unfallrisiko, nach der 12-Stunden-Nachtschicht sogar das ca. 4-fache Risiko. Zur Orientierung: Das Kuratorium für Verkehrssicherheit gibt für 0,5 Promille ein 2-faches Unfallrisiko an.

Aus Unternehmersicht werden die Vorteile nur kurzfristig zum Tragen kommen. Bei dauerhafter Ausnutzung der erweiterten Rahmenbedingungen wird es zu erhöhter Unfallhäufigkeit, verringerter Produktivität und frühzeitigen Pensionierungen kommen.

Factsheet

Exponentiell steigende Stressbelastung

Stress steigt exponentiell von Stunde zu Stunde und ist bei Normalarbeitszeit in der 7. und 8. Stunde am höchsten. Die Belastungszunahme steigt pro weitere Arbeitsstunde drastisch. Es gibt eine Kumulation von Stress im Laufe eines Arbeitstages, deren Bewältigung nach entsprechenden Pausen verlangt. Die findet in der Regel nicht oder nicht in ausreichendem Maße statt. Es ist arbeitsmedizinisch gesichert, dass chronischer Stress die Leistungsfähigkeit und Produktivität senkt und krank macht. Für die meisten Arbeitswelten sind daher 12-Stunden-Arbeitstage ohne ausreichende Regenerationsphasen zumindest mittelfristig kontraproduktiv, weil Fluktuation, Krankenstände und Frühpensionen zunehmen.

 

Problempunkt Nachtschichten           

Für junge Arbeitnehmer beträgt die Verausgabung bei Nachtschichten 156 Prozent der Tagesschicht, d.h. eine 8–Stunden-Nachtschicht ist so verausgabend wie 13 Stunden Tagarbeit. Eine 12-Stunden-Schicht wäre für Arbeitnehmer um die 30 so kräfteraubend wie 19 Stunden Tagarbeit. Ab ca. dem 45. Lebensjahr sinkt die Nachtarbeitstoleranz bei der überwiegenden Mehrheit dramatisch (Körpertemperatur sinkt, Konzentrationsschwierigkeiten treten auf, Schlafstörungen bis hin zu Stoffwechselproblemen). Eine aktuelle US-Studie hat eine gesteigerte Krebshäufigkeit bei nachtarbeitenden Krankenschwestern nachgewiesen.

 

Verstärktes Suchtverhalten                  

Der 8-Stunden-Arbeitstag ist so verdichtet, dass die Stress-Werte in den Belegschaften hoch sind und bei verlängerter Arbeitszeit weiter steigen. Erwiesenermaßen reagieren Arbeitnehmer aufsteigende Stressbelastung mit erhöhtem Suchtverhalten. Der Konsum von Zigaretten, Alkohol und Koffein steigt überproportional. Es lässt sich auch eine überdurchschnittlich hohe Neigung zu Übergewicht bei starker Stressbelastung feststellen.

 

Fehlende MAK-Werte                               

Der MAK-Wert (Maximale Arbeitsplatz-Konzentration) gibt die höchstzulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes in Form von Gas, Dampf oder Schwebstoff in der Luft am Arbeitsplatz an. Er ist bezogen auf eine tägliche Expositionszeit von 8 Stunden (bei durchschnittlich 40 Wochenstunden bzw. 42 Wochenstunden im Vierschicht-System). Bei Einhaltung der MAK-Werte wird im Allgemeinen auch bei wiederholter und langfristiger Exposition die Gesundheit von Arbeitnehmern/-innen nicht beeinträchtigt. Für eine Regelarbeitszeit von 10 Stunden oder mehr gibt es aktuell keinerlei Messungen, wie sich Staub, Rauch oder Dämpfe bei der entsprechend längerer Expositionszeit auswirken.

 

Rechtl. Status quo:

Das derzeit noch gültige Arbeitszeitgesetz erlaubt eine Arbeitszeit von zehn Stunden am Tag und 50 Stunden in der Woche.

 

Ausnahmen

Die Höchstarbeitszeit kann für 24 Wochen auf 12 Stunden täglich und 60 Stunden pro Woche ausgeweitet werden.

 

Voraussetzungen dafür:

Es besteht vorübergehend ein besonderer Arbeitsbedarf – wenn zum Beispiel ein außergewöhnlicher und die normalen Kapazitäten übersteigenden Arbeitsauftrag vorliegt, – andernfalls ein unverhältnismäßiger wirtschaftlicher Nachteil (z.B. Pönale, Verlust von Folgeaufträgen) droht und

  • keine anderen Maßnahmen, wie etwa die Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften, zumutbar sind.

 

Neu im Initiativantrag:

Diese Voraussetzungen sollen zur Gänze entfallen. Der Arbeitgeber erhält ein Anordnungsrecht.

– Es ist vorgesehen ist, dass Arbeitnehmer Überstunden „aus überwiegenden persönlichen Interessen“ ablehnen können. Diese Möglichkeit besteht, wenn die Tagesarbeitszeit von zehn Stunden oder eine Wochenarbeitszeit von 50 Stunden überschritten wird.

– Die verordneten Überstunden kann man nur aus „überwiegenden persönlichen Interessen“ ablehnen. Empfindet der Arbeitgeber die Ablehnung als ungerechtfertigt, kann er Arbeitsverweigerung unterstellen und den Mitarbeiter entlassen. Es werden letztlich Arbeitsgerichte klären, ob das private oder betriebliche Interesse gewichtiger war.

 

Betriebliche  Vereinbarung nicht mehr notwendig                                                     

Eine Regelung durch Betriebsvereinbarung ist nicht notwendig. Es ist auch keine arbeitsmedizinische Begutachtung erforderlich wie bisher (wenn kein Betriebsrat vorhanden).

 

Ruhepausen werden verkürzt

Derzeit schon kann in der Gastronomie und Hotellerie (vor allem in Saisonbetrieben) bei Vollzeitbeschäftigten die tägliche Ruhezeit von elf auf acht Stunden verkürzt werden. Geregelt wird das im Kollektivvertrag. In Zukunft ist das auch bei „geteilten“ Diensten (=mindestens drei Stunden Mittagsunterbrechung) in jedem Betrieb erlaubt (egal ob Saison- oder Ganzjahresbetrieb). Dies gilt auch für Teilzeitbeschäftigte und nur noch per Betriebs- oder Einzelvereinbarung.

 

Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist die Reduktion der Ruhepausen ein deutlicher Rückschritt im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Sie widerspricht dem arbeitsmedizinischen Grundsatz – mehr Belastung- mehr Ruhepausen – diametral. 

 

IBG GmbH, gegründet 1995, ist mit über 165 MitarbeiterInnen, 70 davon ArbeitsmedizinerInnen, Österreichs größte Unternehmensberatung im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. IBG ist in ganz Österreich vertreten.

 

Ansprechpartnerin

Renate Ruhaltinger-Mader
M            + 43 (676) 38 49 022
EMail     presse@ibg.co.at

 

Rudolf Karazman | Personal Austria

Arbeitszeitflexibilisierung

Wer mehr arbeitet, muss mehr ruhen.

Geht es wirklich darum?

Arbeitszeitflexibilisierung ist eines der Top-Themen der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion. Geht es wirklich um Flexibilisierung? Auch eine zugunsten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Oder geht es nur um Verlängerung der täglichen Arbeitszeit? Die menschliche Verausgabung steigt mit der Arbeitsdauer – und zwar exponentiell.

Eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit gefährdet durch Stresserhöhung die Gesundheit der Belegschaft und das Arbeitsklima. IBG ist für eine echte Flexibilisierung zugunsten der Bedürfnisse der Kunden bzw. Kundinnen UND die der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die politischen Entscheidungsträger sind gefordert, die Tragweite einer möglichen Lösung in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Es ist arbeitsmedizinisch erwiesen, dass chronischer Stress die Leistungsfähigkeit und Produktivität senkt und Überforderung am Arbeitsplatz krank macht.

Für die meisten Arbeitswelten sind daher 12-Stunden-Arbeitstage ohne ausreichende Regenerationsphasen zumindest mittelfristig kontraproduktiv, weil damit vorzeitige Arbeitsunfähigkeit, zunehmende Krankenstände, höhere Fluktuation, steigende Gesundheitskosten und Frühpensionierungen vorprogrammiert sind. Derartige Ausgleichsmaßnahmen fehlen in der Diskussion derzeit völlig. Es geht nicht nur um die Balance von Geldwerten.

Exponentiell steigende Stressbelastung

Eine Ausweitung des Arbeitstags verlangt deutlich mehr Erholungszeit als Teil der sozial wirksamen Arbeitszeit und muss durch gleichwertigen Zeitausgleich kompensiert werden. Stress steigt exponentiell von Stunde zu Stunde und ist bei Normalarbeitszeit in der 7. und 8. Stunde am höchsten. Die Belastungen nehmen pro weitere Arbeitsstunde drastisch zu. Es gibt eine Kumulation von Stress im Laufe eines Arbeitstages, deren Bewältigung nach entsprechenden Pausen verlangt. Die findet in der Regel nicht oder in unzureichendem Maße statt.

Problempunkt Nachtschicht

Für junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beträgt die Verausgabung bei Nachtschichten 156% der Tagesschicht, d.h. eine 8-Stunden- Nachtschicht ist so verausgabend wie 13 Stunden Tagarbeit. Eine 12-Stunden-Schicht wäre für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um die 30 so kräfteraubend wie 19 Stunden Tagarbeit. Etwa ab dem 45. Lebensjahr sinkt die Nachtarbeitstoleranz bei der überwiegenden Mehrheit dramatisch. So weist eine aktuelle US-Studie auf eine reduzierte Lebenserwartung bei nachtarbeitenden Krankenschwestern hin. Auch nicht zu unterschätzen: die Aufrechterhaltung des Schlafrhythmus. Bei einem 12-stündigen Arbeitstag und einem durchschnittlichen Schlafbedürfnis von acht Stunden wird die Gestaltung des Tagesablaufs mit normalen sozialen Interaktionen kompliziert. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reagieren darauf mit Verkürzung der Erholungs- bzw. Schlafphasen. Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist daher nach Möglichkeit zu verhindern, weil durch Rationalisierung und Optimierung die Arbeitsintensität bereits beim bisherigen Arbeitstag meist an der Grenze ist. Die hohe Rate an Burnout belegt dies.

Fehlende MAK-Werte

Der MAK-Wert (Maximale Arbeitsplatz-Konzentration) gibt die höchstzulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes in der Luft am Arbeitsplatz an. Er bezieht sich auf eine tägliche Einwirkzeit von 8 Stunden.

Bei Einhaltung der MAK-Werte wird im Allgemeinen auch bei wiederholter und langfristiger Exposition die Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht beeinträchtigt. Für eine Regelarbeitszeit von 10 Stunden oder mehr gibt es jedoch aktuell keinerlei Messungen, wie sich diese Stoffe bei entsprechend längerer Expositionszeit auswirken.

Die Kosten fressen die Vorteile

Es ist zu erwarten, dass der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeiten durch die verringerte Produktivität in der 10. bis 12. Arbeitsstunde zunichte gemacht werden wird – von den volkswirtschaftlichen Kosten ganz abgesehen. »In der Diskussion um eine echte Flexibilisierung fehlt die Wahlmöglichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: kürzere und längere Tages- und Wochenarbeitszeit, Wahl der Beginnzeiten nach eigenen Bedürfnissen oder Urlaub nach Lebenssituation und familiären Erfordernissen.« ist IBG-Arbeitsmediziner und Arbeitszeiten-Experte Helmut Stadlbauer überzeugt. Echte Optionen für die Belegschaft sind DER Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden und Produktivität und Qualität zu verbessern.

So bleiben Mitarbeitende wertvoll

  • Altersteilzeit sollte nur gleitend in Anspruch genommen werden dürfen, und nicht mehr als Block.
  • Statt Senioritätsprinzip oder Zulagen wäre eine Arbeitszeit-Reduktion gesundheitsverträglicher.
  • Statt Steuerbegünstigung für Überstunden sollte die Beschäftigung von zusätzlichem Personal gefördert werden.

Es braucht zudem ein Monitoring des Arbeitsvermögens und der gesundheitlichen Qualität der Arbeitsprozesse, damit   chronische Fehlanforderung und Stress, Krankheit, Frühpensionen und Produktivitätsverluste vermieden werden. Arbeitszeit-Veränderungen brauchen Mitsprache, Bewusstseinsbildung und Zustimmung sowie engmaschige Evaluierung, um für Mitarbeitende wie Unternehmen gute Wege zu ebnen.

 

Autoren
Prof. Dr. Rudolf Karazman, Mag. Josef Ruhaltinger

 

Time is Money Concept

Arbeitszeitflexibilisierung: Wer mehr arbeitet, muss mehr ruhen.

Offener Brief von Dr. Karazman an Bundeskanzler und Vizekanzler.

  • Was als Arbeitszeit-Flexibilisierung diskutiert wird, ist beim gegenwärtigen Verhandlungsstand keine Flexibilisierung, sondern eine Arbeitszeit-Verlängerung.
  • Es fehlen die Wahlmöglichkeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die entsprechende Erholungszeit.
  • Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30 h Wochenarbeitszeit verbunden werden.

Derzeit geht es um Verlängerung, nicht Flexibilisierung
Arbeitszeitflexibilisierung repräsentiert eines der Top-Themen der gegenwärtigen innen- und wirtschaftspolitischen Diskussion. Sie als politische Entscheidungsträger sind gefordert, die Tragweite einer möglichen Lösung in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Als Facharzt für Arbeitsmedizin und auch als Unternehmer habe ich nicht den Eindruck, dass den sozialen und arbeitsmedizinischen Aspekten jener Raum eingeräumt wird, den diese benötigen. Die gegenwärtige Gestaltung des Themas „Arbeitszeitflexibilisierung“ ist nicht nachhaltig, weil die menschliche Verausgabung mit der Arbeitsdauer steigt – und zwar exponentiell. Ohne entsprechend verlängerte Erholungszeit sind vorzeitige Arbeitsunfähigkeit, zunehmende Krankenstände, steigende Gesundheitskosten und vorzeitige Pensionierungen programmiert. Derartige Ausgleichsmaßnahmen fehlen in der Diskussion derzeit völlig. Es geht bei der Thematik nicht nur um geldwerte Balance.

Die Kosten fressen die Vorteile
Ich prognostiziere, dass der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeiten durch die verringerte Produktivität der zehnten oder 12. Arbeitsstunde zunichte gemacht werden wird – von den volkswirtschaftlichen Kosten einmal ganz abgesehen.

Der Diskussion fehlt die Wahlmöglichkeit der Mitarbeiter
Eine echte Flexibilisierung bietet den Mitarbeitern Wahlmöglichkeiten zwischen kurzen und längeren Diensten, zwischen gängiger und kürzerer WAZ, zwischen Normal-Urlaub und XXL-Urlaub. Echte Optionen für die Belegschaft sind DER Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden und Produktivität und Qualität zu verbessern. Die Präferenz für eine Arbeitszeit-Form lässt die Arbeit leichter bewältigen, wie ich und meine Mitarbeiter in etlichen Untersuchungen nachweisen konnten.

Nicht noch mehr Arbeitsstunden
Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist nach Möglichkeit zu verhindern, weil durch Rationalisierung und Optimierung die Arbeitsintensität schon beim bisherigen Arbeitstag meist an der Grenze ist. Die hohe Rate an Burn Out belegt dies. Eine nicht ausbalancierte Ausweitung des Arbeitstages erhöht das Risiko von Krankheit und Frühpension. In vielen Berufen ist eine kürzere Dienstzeit anzuraten, z.B. Intensiv-Krankenpflege, Nachtarbeit, ÖPNV-FahrerInnen, LehrerInnen.

12-Stunden Tag braucht 30-Stunden-Woche
Die psychobiologische Verausgabung steigt exponentiell mit der Dauer des Arbeitsalltages. Eine Ausweitung des Arbeitstags verlangt daher deutlich mehr Erholungszeit als Teil der sozial wirksamen Arbeitszeit. Eine Ausweitung des Arbeitstages muss durch gleichwertigen Zeitausgleich kompensiert werden. Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30 h WAZ verbunden werden. In die sozial wirksame AZ sind auch Wegzeit, Auf- und Abrüstzeit, Vorbereitung etc. miteinzurechnen, damit das wahre Ausmaß zeitlicher Anstrengung realistisch berechnet und genügend Regenerationszeit geplant werden kann.

Evaluierungen der Entwicklungen
Es braucht ein humanökologisches Monitoring des Arbeitsvermögens und der gesundheitlichen Qualität der Arbeitsprozesse, damit chronische Fehlanforderung und Stress, Krankheit, Frühpensionen und Produktivitätsverluste vermieden werden. Insbesondere Arbeitszeit-Veränderungen brauchen Mitsprache, Bewusstseinsbildung und Zustimmung sowie im ersten Jahr engere Evaluierung, um für Mitarbeiter wie Unternehmen gute Wege zu ebenen.

Funktionierende Beispiele
Ich habe viele Arbeitszeit-Flexibilisierungsprojekte in Österreichs Unternehmen begleitet. Heute arbeiten zehntausende SchichtarbeiterInnen z.B. mit optionalen Schichtplänen, d.h. sie verfügen über eine Wahlmöglichkeit der Wochenarbeitszeit oder Dienstlänge. Dies bringt wirkliche Flexibilisierung:

  • voest-alpine/Stahl Linz
  • Agromelamin Linz (heute AMI Linz)
  • Polyfelt Gesosynthetics
  • Nettingsdorfer Papierfabrik
  • KAV Krankenanstaltenverbund Wien
  • Münchner Verkehrsbetriebe

Ich habe dazu mehrere Bücher und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht:

  • Das Buch „Gesunde Arbeitszeiten im Pflegeberuf“ (Hg. Generaloberin Charlotte Staudinger (KAV) und Prof. Rudolf Karazman (IBG)) befasst sich mit der Gesundheitsverträglichkeit von 12-Stunden-Schichten und ihr Effekt auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit..
  • Die Beratungs-website www.arbeitundalter.at von IV, AK, ÖGB und WKO wurde von mir entwickelt und enthält viele evaluierte Fallbeispiele von AZ-Flexibilisierung.
  • Im Buch „Human Quality Management–Menschengerechte Unternehmensführung“ beschreibe ich Kriterien, Wege und Beispiele für gesundheitsfördernde AZ-Gestaltung.
  • div. wissenschaftlichen Publikationen
    Dies sind Empfehlungen aus mehr als 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit und betrieblichen Praxisprojekten. Kurzsichtige betriebswirtschaftliche Maßstäbe reichen nicht, um der Ressource Mensch gerecht zu werden.

Rudolf Karazman

 

PS:
So bleiben ArbeitnehmerInnen im Arbeitsprozess

  • Altersteilzeit sollte nur gleitend in Anspruch genommen werden dürfen, und nicht mehr als Block.
  • Statt Senioritätsprinzip oder Zulagen wäre eine Arbeitszeit-Reduktion gesundheitsverträglicher. 
  • Statt Steuerbegünstigung für Überstunden sollte die Ausweitung des MA-Pools gefördert werden.
  • Die Zahl an Überstunden sollte mit 5 h/Woche begrenzt sein.