Kategorie: Arbeitsmedizin

Arbeitsmedizin

Menschen sind keine Maschinen

Österreich

»12-Stunden-Tag: Mediziner warnen vor Gesundheitsfolgen«

Experte: Rudolf Karazman

Nach seinen Erkenntnissen sehen sich die meisten Arbeitnehmer durch starken oder sogar sehr starken Stress belastet. Die Ursachen dafür lägen in hoher Arbeitsintensität bedingt durch Beschleunigung, Technologie und Deregulierung. „Eine Entgrenzung der Arbeitszeit ist kontraproduktiv“, sagte Karazman.

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Rudolf Karazman | Personal Austria

Das sind die Gesundheits-Kosten des 12-Stunden Arbeitstages

Der Initiativantrag der Regierung will den 12-Stunden-Arbeitstag auf einfache Anordnung des Arbeitgebers ermöglichen. Die Gesundheitskosten steigen ab der 8. Arbeitsstunden exponentiell.

Die Regierung hat ihre Pläne für eine flexibilisierte Arbeitszeitgesetzgebung per Initiativantrag vorgestellt. Die Kernpunkte:

  • Die Höchstgrenze der Arbeitszeit wird auf zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche angehoben – und zwar auf alleinige Anordnung des Arbeitgebers. Derzeit ist das nur in Ausnahmefällen erlaubt.
  • Es ist vorgesehen ist, dass Arbeitnehmer Überstunden „aus überwiegenden persönlichen Interessen“ ablehnen können. Diese Möglichkeit besteht, wenn die Tagesarbeitszeit von zehn Stunden oder eine Wochenarbeitszeit von 50 Stunden überschritten wird.
  • Die verordneten Überstunden kann man nur aus „überwiegenden persönlichen Interessen“ ablehnen. Empfindet der Arbeitgeber die Ablehnung als ungerechtfertigt, kann er Arbeitsverweigerung unterstellen und den Mitarbeiter entlassen. Es werden letztlich Arbeitsgerichte klären, ob das private oder betriebliche Interesse gewichtiger war.

Was als Arbeitszeit-Flexibilisierung diskutiert wird, gleicht im Initiativentwurf keiner Flexibilisierung, sondern einer – zumindest unter besonderen Konstellationen – Arbeitszeit-Verlängerung.

Reduktion auf 30h-Wochenarbeitszeit
Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist eindeutig: Die gesundheitlichen Belastungen für den Arbeitnehmer werden durch das geplante Gesetz höher. Es fehlen die Wahlmöglichkeiten der MitarbeiterInnen und die entsprechende Erholungszeit. Der Verweis auf eine 4-Tage-Woche bei 40 Wochenarbeitsstunden ist dabei nicht ausreichend. All unsere Studien und Beobachtungen über 30 Jahre unterstreichen, dass regelmäßige 12-Stunden-Dienste aus gesundheitlicher Sicht mit einer 30 h Wochenarbeitszeit verbunden werden müssen.

Belastung steigt exponentiell
Als Facharzt für Arbeitsmedizin und auch als Unternehmer habe ich nicht den Eindruck, dass in der aktuellen Regierungsvorlage den sozialen und arbeitsmedizinischen Aspekten jener Raum eingeräumt wird, den diese benötigen. Die vorliegende Gestaltung des Themas „Arbeitszeitflexibilisierung“ kann auf längere Sicht nicht gut gehen, weil die menschliche Verausgabung mit der Arbeitsdauer steigt – und zwar exponentiell. Ohne entsprechend verlängerte Erholungszeit sind vorzeitige Arbeitsunfähigkeit, zunehmende Krankenstände, steigende Gesundheitskosten und vorzeitige Pensionierungen programmiert. Derartige Ausgleichsmaßnahmen fehlen in der Diskussion derzeit völlig. Es geht bei der Thematik nicht nur um geldwerte Balance.

Die Kosten fressen die Vorteile
Ich prognostiziere, dass der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeiten durch die verringerte Produktivität der zehnten oder 12. Arbeitsstunde zunichte gemacht werden wird – von den volkswirtschaftlichen Kosten einmal ganz abgesehen.

Bei Dauerbelastung unübersehbare Schäden
Die neue Arbeitszeitregelung erlaubt bis zu 13 Wochen mit 60 Stunden in Folge, bevor die EU-Beschränkung von 48h in 17 Wochen wirkt. Bisher waren unter erheblichen Auflagen – und daher sehr selten vorkommend – nur max. acht Wochen in Folge möglich. Auch die scheinen arbeitswissenschaftlich schon sehr problematisch. Unter günstigen Umständen – wenig belastende Arbeit, keine persönlichen Faktoren, die die Belastung intensivieren (z.B. Alter, Chronotyp), stressfreies Umfeld (z.B. Kinderbetreuung, …) – sind wahrscheinlich auch ein paar Wochen derartiger Arbeit vertretbar.
Fällt aber nur eine dieser günstigen Bedingungen weg, steigen die Belastungen rapide. Das gilt insbesondere bei Schichtarbeit. Einzelne zwölf-Stunden Schichten sind z.B. bei kurzfristigem Krankheitsausfall oder bei nicht risikoreicher Arbeit aus arbeitsmedizinischer Sicht vielleicht möglich. In vielen Fällen jedoch ist bereits eine Woche – insbesondere bei Nacht – oder gar viele Wochen hintereinander eine Ausdehnung der Schichtarbeitszeit als arbeitsmedizinisch sehr schlecht zu beurteilen (Schlafdefizite, Überlastung, soziale Schwierigkeiten, Unfallgefahr).

Keine Flexibilisierung für Mitarbeiter
Eine echte Flexibilisierung bietet den Mitarbeitern Wahlmöglichkeiten zwischen kurzen und längeren Diensten, zwischen gängiger und kürzerer WAZ, zwischen Normal-Urlaub und XXL-Urlaub. Echte Optionen für die Belegschaft sind DER Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden und Produktivität und Qualität zu verbessern. Die Präferenz für eine Arbeitszeit-Form lässt die Arbeit leichter bewältigen, wie ich und meine Mitarbeiter in etlichen Untersuchungen nachweisen konnten.

Nicht noch mehr Arbeitsstunden
Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist nach Möglichkeit zu verhindern. Gegenwärtig ist der Druck durch Rationalisierung und Optimierung die Arbeitsintensität schon beim bisherigen Arbeitstag meist an der Grenze. Die hohe Rate an Burn Out belegt dies. Eine nicht ausbalancierte Ausweitung des Arbeitstages erhöht das Risiko von Krankheit und Frühpension. In vielen Berufen ist eine kürzere Dienstzeit anzuraten, z.B. Intensiv-Krankenpflege, Nachtarbeit, ÖPNV-Fahrer, Lehrer.

12-Stunden Tag braucht 30-Stunden-Woche
Die Verausgabung steigt exponentiell mit der Dauer des Arbeitsalltages. Eine Ausweitung des Arbeitstags verlangt daher deutlich mehr Erholungszeit als Teil der sozial wirksamen Arbeitszeit. Eine Ausweitung des Arbeitstages muss durch gleichwertigen Zeitausgleich kompensiert werden. Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30h WAZ verbunden werden. In die sozial wirksame AZ sind auch Wegzeit, Auf- und Abrüstzeit, Vorbereitung etc. miteinzurechnen, damit das wahre Ausmaß zeitlicher Anstrengung realistisch berechnet und genügend Regenerationszeit geplant werden kann.

Evaluierungen der Entwicklungen
Es braucht ein humanökologisches Monitoring des Arbeitsvermögens und der gesundheitlichen Qualität der Arbeitsprozesse, damit chronische Fehlanforderung und Stress, Krankheit, Frühpensionen und Produktivitätsverluste vermieden werden. Insbesondere Arbeitszeit-Veränderungen brauchen Mitsprache, Bewusstseinsbildung und Zustimmung sowie im ersten Jahr engere Evaluierung, um für Mitarbeiter wie Unternehmen gute Wege zu ebenen.

Funktionierende Beispiele
Ich habe viele Arbeitszeit-Flexibilisierungsprojekte in Österreichs Unternehmen begleitet. Heute arbeiten zehntausende Schichtarbeiter z.B. mit optionalen Schichtplänen, d.h. sie verfügen über eine Wahlmöglichkeit der Wochenarbeitszeit oder Dienstlänge. Dies bringt wirkliche Flexibilisierung:

  • voest-alpine/Stahl Linz
  • Agromelamin Linz (heute AMI Linz)
  • Polyfelt Gesosynthetics
  • Nettingsdorfer Papierfabrik
  • KAV Krankenanstaltenverbund Wien
  • Münchner Verkehrsbetriebe

Ich habe dazu mehrere Bücher und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht:

  • Das Buch „Gesunde Arbeitszeiten im Pflegeberuf“ (Hg. Generaloberin Charlotte Staudinger (KAV) und Prof. Rudolf Karazman (IBG)) befasst sich mit der Gesundheitsverträglichkeit von 12-Stunden-Schichten und ihr Effekt auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.
  • Die Beratungs-website www.arbeitundalter.at von IV, AK, ÖGB und WKO wurde von mir entwickelt und enthält viele evaluierte Fallbeispiele von AZ-Flexibilisierung.
  • Im Buch „Human Quality Management–Menschengerechte Unternehmensführung“ beschreibe ich Kriterien, Wege und Beispiele für gesundheitsfördernde AZ-Gestaltung.
  • div. wissenschaftlichen Publikationen

Dies sind Empfehlungen aus mehr als 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit und betrieblichen Praxisprojekten. Kurzsichtige betriebswirtschaftliche Maßstäbe reichen nicht, um der Ressource Mensch gerecht zu werden.

So bleiben Arbeitnehmer im Arbeitsprozess

  • Altersteilzeit sollte nur gleitend in Anspruch genommen werden dürfen, und nicht mehr als Block.
  • Statt Senioritätsprinzip oder Zulagen wäre eine Arbeitszeit-Reduktion gesundheitsverträglicher.
  • Statt Steuerbegünstigung für Überstunden sollte die Ausweitung des MA-Pools gefördert werden.
  • Die Zahl an Überstunden sollte mit 5h/Woche begrenzt sein.

Autor
Prof. Dr. Rudolf Karazman

IBG Auszeichnung BGF Gütesiegel OÖGKK Lindorfer

IBG-Kunde Kapsch erhält Auszeichnung.

Bereits zum 3. Mal wurde der Linzer Standort der Firma Kapsch mit dem Gütesiegel für Betriebliche Gesundheitsförderung ausgezeichnet. IBG hat das Unternehmen durch das Programm begleitet.

Die Kapsch-Gruppe hat bereits frühzeitig erkannt, dass sich präventive Investitionen in die Gesundheit ihrer Belegschaft bezahlt machen. Mitarbeiterbefragungen bestätigen, dass Belastung, Erholung und Wertschätzung in einem ausbalancierten Verhältnis gehalten werden. Das Gütesiegel für betriebliche Gesundheitsförderung wird von der OÖGKK für exzellente Gesundheitsarbeit verliehen.

 

Nachhaltige Maßnahmen

Die Kapsch BusinessCom AG ist mit einer Niederlassung am Standort Linz Leonding vertreten. Das Unternehmen unterhält in der oberösterreichischen Landeshauptstadt seit vielen Jahren ein engagiertes Gesundheitsförderungsteam, das IBG- Arbeitsmediziner Dr. Manfred Lindorfer berät.

Die BGF-Aktivitäten im Unternehmen sind ebenso umfangreich wie vielfältig:  Die Maßnahmen reichen von Gesundheitszirkel, sozialen und sportlichen Teamaktivitäten bis hin zu Fahrsicherheitstrainings. Dazu treten flankierende Aktionen wie „Woman at Kapsch“: Frauen vernetzen und fördern einander auf betrieblicher wie privater Ebene.

 

Das Lärmproblem in Großraumbüros

Eine große soziale und gesundheitliche Herausforderung, die letztendlich erfolgreich bewältigt werden konnte, war die Lärmentwicklung in den Großraumbüros. Jahrelang wurde versucht, dieses Problem mit kleineren Maßnahmen zu lösen wie zum Beispiel mittels eigener Telefonräume, wohin sich die MitarbeiterInnen zum Telefonieren zurückziehen konnten, bestimmte Verhaltensregeln oder Telefonzeiten. Das alles hat sich aber als unpraktikabel erwiesen.  Letztendlich entschied sich das Unternehmen für einen Umbau des gesamten Bürobereichs und einen Einbau von Schallschutzwänden. Das Gesundheitsteam zieht eine positive Bilanz: hier wurde ein guter Kompromiss gefunden zwischen der notwendigen und gewünschten Kommunikation und der Möglichkeit ungestört arbeiten zu können. Diese Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind wiederum die Voraussetzung für eine positive Entwicklung von Produktivität und Gesundheit.

 

 

Arbeit 4.0 Die Digitalisierung

Arbeitsmedizinische Versorgungslücken

Deutschland kämpft mit den gleichen arbeitsmedizinischen Problemen wie Österreich.

Deutsche Arbeitsmediziner warnen vor Versorgungslücken. Neue Arbeitsformen wie das Crowdworking und der zunehmende Trend zur Selbstständigkeit lässt beim Arbeits- und Gesundheitsschutz auf lange Sicht Lücken klaffen, warnt der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte in seinem Positionspapier „Arbeit 4.0 – Beschäftigungsfähigkeit langfristig und nachhaltig sichern“.

Knackpunkt der gegenwärtigen Rechtslage sei, „dass die Arbeitsschutzgesetzgebung immer auf der Verpflichtung des Arbeitgebers besteht, den es in den neuen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr in dieser Form gibt. Mehr darüber hier